Mächtige Mauern umgeben die Altstadt von Bergamo. Die Stadt, die zu den schönsten Italiens gehört, besitzt ein süßes Geheimnis.
Text: Dorothee Fauth
Auf einem Ausläufer der Lombardischen Alpen thront die wohl schönste Stadt Norditaliens. Kaum jemand käme auf Bergamo. Selbst vielen Italienern ist die Stadt, die im Frühjahr 2020, zu Beginn der Coronapandemie, traurige Berühmtheit erlangte, nur als Industriestandort ein Begriff, deren geschäftige Unterstadt in die Po-Ebene hinausstrebt.
Ganz anders die alte Oberstadt. Sie wird von rund sechs Kilometern Mauer gefasst wie ein kostbarer Edelstein – ein Vermächtnis langer venezianischer Herrschaft. Heute bringt die Standseilbahn Besucher auf den Hügel. Mitten hinein in ein Gassengewirr, durch das der Atem von fast 800 Jahren Geschichte weht.
Die Città Alta mit ihren Renaissancepalästen, mittelalterlichen Türmen und opulent ausgestatteten Kirchen gehört den Flaneuren. Sobald sie glauben, in die Kulissen eines Historienfilms spaziert zu sein, stehen sie auf dem Domplatz. Was dort auf engstem Raum versammelt ist, kann andere italienische Städte neidisch machen. Staunend steht man vor diesem Gerangel kirchlicher und weltlicher Macht aus Dom, Altem Rathaus, einer Taufkapelle, einer Basilika und dem Mausoleum des Feldherrn Colleoni, das mit seiner märchenhaften Marmorfassade allen die Schau stiehlt.
Jeder Stein am richtigen Platz
Auf der anderen Seite des Alten Rathauses liegt die Piazza Vecchia. Wer hier nur einen einzigen Stein verändere, begehe ein Verbrechen, soll der Architekt Le Corbusier über den Platz gesagt haben, den mehr als sieben Jahrhunderte Schönheit umgeben. Zeit für einen italienischen Kaffee? Unbedingt! Schließlich bietet das Gewusel auf dem Pflaster allerbeste Unterhaltung dazu.
Danach lässt man sich einfach durch die engen Gassen treiben. Von einem Schaufenster der Verführung zum anderen; kleine Geschäfte, in deren Auslagen hausgemachte Pasta, regionale Käsesorten wie Taleggio oder „Polenta und Vögel“ – eine Süßspeise! – das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. Nicht versäumen darf man einen Abstecher in die Pasticceria La Marianna. 1961 erfand Enrico Panattoni dort einen sahnigen Traum mit knackigen Stücken geschmolzener Schokolade: Stracciatella-Eis. Bis heute wird es nach seinem Originalrezept hergestellt.
Es ist der beste Begleiter für einen Rundgang über die Stadtmauer, den man sich vorstellen kann. Später wird die Mauer, die seit 2017 zum Unesco-Weltkulturerbe gehört, zum Treffpunkt für Freunde glühender Sonnenuntergänge, die das weiche Licht des Südens verschlucken. Dann stellt auch der Stadtturm Campanone sein Fernsehprogramm über den Dächern Bergamos ein und inszeniert sein abendliches Spektakel: Um Punkt 22 Uhr tönen 100 Glockenschläge in die Nacht hinaus.
Einst waren sie das Zeichen, dass die Tore Bergamos geschlossen werden. Heute strömen die Menschen um diese Zeit in die Restaurants, wo unter anderem auch das aufgetischt wird, wofür die Einheimischen schwärmen: Polenta – gegrillt, mit Bergkäse oder Kaninchen. Vielleicht dreht man zum Ende des Tages noch eine Runde über die Piazza Vecchia. Um sich zu vergewissern, dass dort kein Verbrechen geschehen ist.
Top-Tipp: Blühende Piazza
Während zweier Wochen im September erkennt man die Piazza Vecchia fast nicht wieder. Im Rahmen der internationalen Veranstaltung „Die Meister der Landschaft“ verwandeln Künstler und Landschaftsarchitekten den historischen Platz in eine grüne Oase. Zwischen Kunstinstallationen wachsen Blumen in allen Farben und Bäume in den Himmel. Blühende Bienenweiden bringen die Natur in die Stadt, Pflanzen und Installationen treten in Interaktion mit den Gebäuden des Platzes, ganze Landschaften en miniature entstehen. Besucher spazieren durch Gemüsegärten, auch Wasser war schon ein zentrales Thema. Bummeln, staunen, verweilen: Hier zeigt die Piazza Vecchia, dass sie nicht nur zu den schönsten, sondern auch überraschendsten Plätzen Italiens gehört.
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